Push und Pull im Praxistest

Push und Pull im Praxistest
SPUR Ultraspeed Vario

Im Frühjahr hatten wir dem Autor, Fotodesigner und selbsterklärten „Lichtbild-Dilettanten“ Ronald Puhle zwei kleine Flaschen aus der Produktentwicklung zum Testen nach Berlin geschickt. Der darin befindliche neue Entwickler – es handelte sich um SPUR Ultraspeed Vario – war damals auf dem Markt noch nicht erhältlich und trug den vielversprechenden Arbeitstitel „Push & Pull“.

Im folgenden bringen wir einen kurzen Rückblick auf die Testphase, begleitet von einigen Überlegungen mit Hinblick auf die Praxis des Pushens sowie den Mythos „Filmempfindlichkeit“ anhand eines Interviews mit dem Prosumenten Ronald Puhle.

Anita Schain: Wie war es für dich, unabhängig und ohne spezifische Anweisungen im Stillen neuartiges Material unentgeltlich zu testen, das möglicherweise noch nicht marktreif war?

Ronald Puhle: Ganz ohne Anweisung war der Test ja nicht. Dem Entwickler lag ein vorläufiges Datenblatt bei, und darin waren Filme aufgeführt, die ich auf Lager habe. Bei dieser Konstellation halte ich mich an die Vorgaben und bewerte danach – ganz subjektiv – das Ergebnis. Erst dann geht es ans Ausprobieren. Natürlich war der Test genauso aufregend wie es spannend war, herauszufinden, was der mögliche Nachfolger des HCD new leisten würde.

 SPUR Ultraspeed Vario - Push und Pull im Praxistest
© 2014 Heribert Schain. All rights reserved. SPUR Ultraspeed Vario – der Experte fürs Pullen und Pushen. Zum Vergrößern klicken

Anita Schain: In der Szene bist du unter anderem dafür bekannt, dass du gerne pushst, und auf deinem Blog sind dafür zahlreiche Beispiele zu sehen. Was gefällt dir am Pushen, und pullst du eigentlich manchmal auch?

Ronald Puhle: Push setze ich für mich mit Kontrast, Korn und Schärfe gleich. Ich sollte wegen der Schärfe ergänzen, dass ich für gepushte Atelierarbeiten Rodinal-Derivate verwende und am Ende der Negativentwicklung über eine veränderte Agitation, quasi als Finish, auf die Ausnutzung des Eberhard-Effekts abziele. In Verbindung mit dem Rollei Superpan 200 bzw. Rollei Retro 400S und einem SPUR Cool Black/ ACUROL-N – Verschnitt habe ich eine experimentelle Arbeitslösung gefunden, die für mich auch das Pullen interessant macht.

Anita Schain: Wie würdest du dein Verhältnis Pushen zu Pullen in Prozent ausdrücken?

Ronald Puhle: 90% Push zu 10% Pull.

Anita Schain: Hast du so etwas wie eine Push-Routine?

Ronald Puhle: Für einige Atelierarbeiten habe ich mir einen durchgängigen Prozess erarbeitet, um einen bestimmten Bildausdruck zu erzielen. Es beginnt bei der Wahl der Kamera und endet mit der Ausarbeitung am Computer. Wie auf einer Perlenschnur sind alle Schritte dazwischen, angefangen beim Film über den Entwickler, die Entwicklungszeiten, Agitation bis hin zum Scannen, festgelegt.

Anita Schain: Bei dem Testmaterial „Push & Pull“ handelte es sich um eine völlige Neuformulierung auf Basis des bekannten SPUR-Knowhows [siehe HCD new – Die Fakten]. Dazu gab es ein vorläufiges Datenblatt. Hier hat mein Vater [Heribert Schain] die auf Datenblättern anderer Firmen sowie viele auf Digitaltruth von Anwendern angegebenen, sehr hohen Empfindlichkeiten als überzogen oder nicht seriös beschrieben. Wie würdest du die von SPUR angegebenen Empfindlichkeiten bewerten? Wie bist du davon abgesehen mit dem Datenblatt zurechtgekommen?

Ronald Puhle: Spontan möchte ich darauf antworten: Das iPhone ist mein Belichtungsmesser und die App „The Massive Dev Chart“ mein Rezeptbuch. Damit ist doch klar, wem ich vertraue! Zum besseren Verständnis für den Leser: Meine Antwort hat einen leicht sarkastischen Unterton.

Mal im Ernst: Ich sehe mich außerstande, Herstellerangaben auf Richtigkeit zu überprüfen. Sicherlich ist die eine oder andere Angabe zur Empfindlichkeit und den Entwicklungszeiten mit Vorsicht zu genießen. Manchmal fällt das sogar mir auf, und dann suche ich nach einer anderen Lösung. Und wenn ich dann doch in eine Falle tappe, dann mache ich diesen Fehler nur einmal und ändere Rezepte entsprechend ab und/ oder verifiziere meine Belichtungsmessung. Letztgenanntes kann sogar so weit gehen, dass ich bei meinen Aufnahmen über die Lichtintensität den Lichtwert errechne.

Ich glaube, dass das Problem bei einigen Angaben zur Empfindlichkeit darin liegt, dass beim Jonglieren mit Blendenstufen bzw. Lichtwerten der Bezug zur absoluten Größe verlorengeht. Wenn einem dann auch noch das Licht ausgeht, und der Schwarzschild-Effekt vergessen wird, sind – relativ gerechnet – außergewöhnliche Empfindlichkeiten möglich. Aber das sind meinerseits nur Spekulationen und es liegt mir fern, mit meinen Äußerungen eine Debatte loszutreten.

Das vorläufige Datenblatt habe ich im positiven Sinn als „Warnhinweis“ verstanden, ohne bei der ersten Entwicklung den Grund verstanden zu haben. Das Verständnisproblem lag allein bei mir. Im Gegensatz zum HCD new erweitert der Ultraspeed Vario den Entwicklungsspielraum beim Push und Pull. Frei nach Dr. Otto Beyer [Fotografie in Schwarz-Weiss]: Zonensystem und Push und Pull haben unterschiedliche Ziele und sind sich dennoch näher als von vielen gedacht.

Anita Schain: Der Ultraspeed Vario-Zweitentwickler ist ein echter Fineart-Entwickler, der sich im Prinzip auch als Hauptentwickler verwenden lässt. Allerdings gibt es von SPUR hierfür keine Entwicklungszeiten, da der Zweitentwickler ausschließlich als Bestandteil eines Bündels speziell zum Pushen und Pullen vermarktet wird. Wie findest du das?

 SPUR Ultraspeed Vario - Push und Pull im Praxistest
© 2014 Ronald Puhle. All rights reserved. Yashica-Mat, Kodak Tri-X 400 Mittelformat @ ISO 1600/33°, entwickelt in einer Vorstufe des SPUR Ultraspeed Vario. Zum Vergrößern klicken

Ronald Puhle: In dem Punkt wohnen zwei Seelen in meiner Brust. SPUR verfolgt mit dem Ultraspeed Vario ein Ziel, das sich [nur] durch die Kombination der beiden Bestandteile erreichen lässt. Ich verstehe und akzeptiere SPUR’s Produktstrategie, denn die Mehrzahl der Anwender wird den Entwickler nach diesem Prinzip einsetzen.

Aber: Wer käme auf die Idee, Dokumenten-Entwickler zur bildhaften Fotografie einzusetzen? Einen belichteten Film in einem Positiv-Entwickler zu baden oder gar zwei eigenständige Negativentwickler zusammen zu kippen und damit seine Negative zu entwickeln? Das sind alles Sachen, die man nicht macht!

Und doch kann man es [das Entwickeln] auch so tun. Aus Neugierde und Spaß am Experimentieren. Ein Motiv nach der Hohen Schule des technisch Möglichen einzufangen ist das eine. Neue wie andersartige Interpretationen zu finden, das andere. Beides und viel mehr dazwischen gibt die analoge Fotografie her. Folglich sollte SPUR meiner Meinung nach nicht darauf verzichten, auch – experimentelle – Zeiten für den Zweitentwickler zu veröffentlichen. Im Inneren hat doch SPUR ein Herz für experimentierfreudige Fotografen, wie ich hier [auf der SPUR-Webseite in den Rubriken Experimentelle Entwicklung und Alternative Fotografie] bereits mehrfach zeigen konnte.

Anita Schain: Wir experimentieren selbst tatsächlich auch sehr gern. Hatte der „Entwickler in Entwicklung“ in der Testphase eigentlich noch irgendwelche Macken? Wie würdest du die Handhabung des neuen Zweibads bewerten?

Ronald Puhle: Beim ersten Rollfilm, einem Kodak Tri-X 400, kam es zu Ablagerungen auf dem Negativ, die ich behutsam vom nassen Negativstreifen hätte abstreifen können. Auf die Idee bin ich allerdings erst beim zweiten Versuch gekommen. Was die Handhabung angeht, so hatte sich am Ablauf der Entwicklung – abgesehen von den Zeiten und Verdünnungsverhältnissen – gegenüber dem HCD new nichts geändert.

Anita Schain: Im extremen Pushbereich wurde bei der Testversion „Push & Pull“ bei einigen Emulsionen (auch beim Tri-X) Silberschlamm abgelagert, der sich aber, wie von dir erläutert, im nassen Zustand leicht vom Film abwischen ließ. Beim fertigen Produkt SPUR Ultraspeed Vario wurde diese „Kinderkrankheit“ auf ein Minimum reduziert.

Davon abgesehen handelt es sich tatsächlich um den gleichen Entwickler. Die Ultraspeed-Formel stand schon länger fest, allerdings wurde der neue Entwickler vor der Markteinführung von verschiedenen Fotografen vollumfänglich getestet und noch bestehende Mängel in der Folge ausgemerzt.

Fragen: Wie fandest du denn die Entwicklungsresultate? Wie würdest du die Tonwerte der gepushten Negative beurteilen, und was kannst du in puncto Körnigkeit, Schärfe und Detailkontrast sagen? Waren die Negative für deinen Geschmack evtl. sogar zu feinkörnig?

Ronald Puhle: Ich muss voranstellen, dass der Kodak Tri-X 400 nicht meine erste Wahl in puncto Pushen ist. Ich vertraue da lieber der Kombination Ilford HP5 Plus und einem Rodinal-Nachkömmling. Für meinen Test hatte ich Tri-X 400-Rollfilme vorrätig da, also habe ich sie genutzt. Die erste Entwicklung, brav nach Datenblatt, hat mich trotz der anhaftenden Ablagerungen angenehm überrascht. Der Tri-X 400 offenbart sich mir ungewohnt sanft, ohne bieder oder gar gebändigt auf mich zu wirken. Das Korn ist angenehm, die Schärfe bis ins Detail SPUR-typisch. Warum auch immer, fühlte ich mich auf eine angenehme Weise an den SPUR ACUROL-N erinnert.

 SPUR Ultraspeed Vario - Push und Pull im Praxistest
© 2014 Ronald Puhle. All rights reserved. Gabi. Yashica-Mat, Kodak Tri-X 400 Mittelformat @ ISO 1600/33°, entwickelt in einer Vorstufe des SPUR Ultraspeed Vario

Den zweiten Versuch habe ich genutzt, um den alten Tri-X in den Negativen wieder zu finden. Deshalb wurde von mir sowohl die Belichtung als auch die Entwicklung verändert. Und da war er, der in meinen Augen etwas kantige Tri-X. Im Vergleich zum ersten Versuch haben mir diese Ergebnisse überhaupt nicht zugesagt, was aber eben an meiner Verarbeitung lag.

Anita Schain: Deine Arbeiten zeigen eine im postmodernen Sinne fingiert-ursprüngliche, bewusst ungeschliffene Fotografie abseits des Mainstreams. Der forcierte technische Makel kommt bei vielen deiner Fotografien im Sinne eines Ausreißers effektvoll zur Geltung. Möchtest du Ultraspeed Vario in Zukunft als Arbeitsmittel verwenden?

Ronald Puhle: Für mich sind viel zu viele Fragen offen. Insbesondere die Kontraststeuerung bei der Pull-Entwicklung klingt für mich wahnsinnig interessant. Nicht jede Aufnahme von mir ist ungeschliffen. Hin und wieder halte ich mich an Rezepte und bemühe mich, aus dem „Bauch heraus“-Entwicklungen zu vermeiden. Von mir gibt es ein klares „Ja, ich möchte!“

Anita Schain: Ein großes Dankeschön für dieses anregende Interview 🙂

Lesen Sie mehr von und über Ronald Puhle auf seinem Fotografie-Blog makkerrony.log.